WAS UNS ZUSAMMENHÄLT UND WAS UNS AUSEINANDERTREIBT
Dr. Kai Unzicker
27.04.2021
Vertrauensvolle Beziehungen, starke Verbundenheit und gelebter Einsatz für das Gemeinwohl — diese drei Elemente sind essentiell für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Es ist gar nicht so einfach zu sagen, was gesellschaftlicher Zusammenhalt genau ist. In meiner Arbeit definiere ich Zusammenhalt anhand von drei Bestandteilen.
Demnach verfügt eine Gesellschaft über starken Zusammenhalt, wenn erstens zwischen den Menschen stabile und vertrauensvolle soziale Beziehungen bestehen. Zweitens ist der Zusammenhalt hoch, wenn sich alle als Teil der Gesellschaft empfinden und das Gefühl haben zugehörig zu sein. Letztlich kommt es drittens noch darauf an, wie stark die Menschen sich in der Gesellschaft für andere und für das Gemeinwohl insgesamt einsetzen. Von starkem gesellschaftlichem Zusammenhalt würde ich also dann sprechen, wenn alle drei Elemente vorhanden und stark ausgeprägt sind. In den Studien, die ich durchführe, versuche ich diese drei unterschiedlichen Bereiche zu messen (ausführlich zuletzt im vergangenen Jahr), um herauszufinden, wie stark der Zusammenhalt in der Gesellschaft ist, ob er sich verändert und was möglicherweise einen stärkenden oder schwächenden Einfluss auf den Zusammenhalt hat.
Wie steht es um den Zusammenhalt in Deutschland?
Der verbreitete Eindruck, der Zusammenhalt sei in den letzten Jahren zurückgegangen, lässt sich in unseren Studien erstmal nicht bestätigen. Vielmehr zeigt sich eine große Stabilität. Trotzdem gibt es Probleme. Zum einen sagt Stabilität ja noch nichts darüber aus, wie hoch das Niveau des Zusammenhalts ist. Die bisher erwähnten Ergebnisse beziehen sich lediglich auf den Trend und nicht auf die Ausprägung des Zusammenhalts in der Gesellschaft. Zum anderen kann es sein, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft zwar insgesamt recht gut ist, aber nicht alle Menschen oder Gruppen darin eingeschlossen sind. Vielleicht gibt es den starken Zusammenhalt ja gar nicht für alle in gleichem Umfang? Beides haben wir uns in den letzten Jahren in Studien genauer angeschaut.
Wo liegen die Herausforderungen für den Zusammenhalt?
Im Hinblick auf einzelnen Dimensionen von Zusammenhalt zeigt sich, dass beispielsweise die Akzeptanz von Diversität im Zeitverlauf in Deutschland zwar größer wird – d.h. im Durchschnitt sind die Menschen immer offener für Vielfalt, aber zugleich auch die Polarisierung bei diesem Thema wächst. Zum einen treten hier teilweise deutliche regionale Unterschiede, etwas zwischen Ost- und Westdeutschland auf. Zum anderen werden die, die Vielfalt bereits positiv gegenüberstehen noch offener, während skeptische und ablehnende Haltungen sich entweder kaum verändern oder teilweise sogar radikalisieren.
Das Institutionenvertrauen, insbesondere in politische Institutionen, wie etwa die Bundesregierung und Parteien, war lange Zeit sehr gering ausgeprägt. Zu Beginn der Coronapandemie hat es einen überraschenden Boom erlebt, der aber nach fast einem Jahr im Ausnahmezustand mehr oder weniger aufgebraucht ist. Hier gilt es in Zukunft das Vertrauen in das politische System und seine maßgeblichen Akteure wieder zu stärken.
„Die Akzeptanz von Diversität, das Vertrauen in Institutionen und das Gerechtigkeitsempfinden müssen wir im Blick behalten.“
Ernüchternd ist der Blick auf das Gerechtigkeitsempfinden. Es ist seit Jahren sehr gering ausgeprägt und eine große Mehrheit der Deutschen hat den Eindruck, aus ganz unterschiedlichen Gründen, vom gemeinschaftlichen Kuchen keinen fairen Anteil abzubekommen. Hier gab es zuletzt von 2017 zu 2020 zwar sogar einen leichten Anstieg, d.h. ein etwas größerer Anteil empfindet die gesellschaftlichen Bedingungen inzwischen als gerechter, aber immer noch ist eine überwältigende Mehrheit unserer Befragten der Meinung, diese wären ungerecht.
Trotz dieser drei „Baustellen“ – Akzeptanz von Vielfalt, Institutionenvertrauen und Gerechtigkeitsempfinden – ist der gesellschaftliche Zusammenhalt im Durchschnitt in Deutschland aber durchaus stabil. Jedoch haben zwei unserer Studien aus dem letzten Jahr deutliche Hinweise darauf gegeben, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen in diesen Zusammenhalt mit eingebunden sind. In einer Studie zum Zusammenhalt in Baden-Württemberg zeigte sich, dass insbesondere chronisch Kranke, Menschen mit Migrationshintergrund, ärmere Menschen, Alleinerziehende und generell Frauen einen geringeren Zusammenhalt erleben. Eine Analyse für Gesamtdeutschland bestätigt dies insbesondere für Menschen mit geringer formaler Bildung und niedrigem Haushaltseinkommen.
In der Pandemie behauptet sich der Zusammenhalt zunächst, aber das Spaltungsrisiko steigt
In der Corona-Pandemie verschärfen sich diese Unterschiede. Im ersten Halbjahr 2020 hat sich der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland angesichts dieser Jahrhundertherausforderung bewährt und sogar leicht zugenommen: Wie bereits erwähnt, stieg beispielsweise in der sogenannten „Stunde der Exekutive“ das Institutionenvertrauen an. Auch im Hinblick auf die zwischenmenschliche Solidarität, waren unsere Befragten anfangs optimistisch gestimmt. Bis zum Jahresende hatten sich diese Effekte aber größtenteils wieder in Luft aufgelöst.
Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, eine problematische Entwicklung, die bei der Solidarität besonders gut sichtbar wird: Die positiven Zugewinne an wahrgenommener Solidarität finden sich nämlich fast ausschließlich in den mittleren und gehobenen sozialen Lagen der Gesellschaft. Menschen mit niedrigem Einkommen und niedriger Bildung bewerten die Solidarität im Land im Jahresverlauf eher schlechter.
Zusammenhalt stärken — aber wie?
Die große Gefahr der aktuellen Krise für den gesellschaftlichen Zusammenhalt besteht darin, dass den offen zutage getretenen Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft nicht angemessen begegnet wird. Wir haben jetzt gesehen, wie belastend die Pandemie für Menschen im Niedriglohnsektor ist, wie herausgefordert Pflegekräfte und medizinisches Personal sind, wie ungleich die wirtschaftlichen Härten verteilt sind. Zum sozialen Sprengstoff werden diese Umstände, wenn sie nach dem Ende der Pandemie nicht glaubhaft von Politik und Gesellschaft angegangen werden. In unserer Studie zum Zusammenhalt in Baden-Württemberg haben wir gezielt untersucht, wie man vor Ort mit politischen Maßnahmen den Zusammenhalt stärken kann. Hier hat sich gezeigt, dass insbesondere solche Maßnahmen geeignet sind, die Familien und Alleinerziehenden helfen, die Armut vorbeugen oder bekämpfen und die die Integration befördern. Dies werden vermutlich auch in der Post-Corona-Phase die Handlungsfelder sein, auf denen dringender Bedarf bestehen bleibt.
„Wir müssen uns, vielleicht mehr als je zuvor, um den Zusammenhalt bemühen.“
Nicht nur wegen der aktuellen Krisensituation, sondern auch aufgrund der fundamentalen Wandlungsprozesse, wie Globalisierung, Digitalisierung, demographischer Wandel usw., die unsere Gesellschaft bereits seit einigen Jahren deutlich verändern, ist gesellschaftlicher Zusammenhalt keine Selbstverständlichkeit mehr, die von ganz allein entsteht. Wir müssen uns, vielleicht mehr als je zuvor, um ihn bemühen. Das bedeutet nicht, dass es heute keinen Zusammenhalt mehr geben würde oder dass er in Zukunft verschwinden würde. Es heißt vor allem, dass viele Elemente, die den Zusammenhalt in der Vergangenheit, fast wie von selbst, gestützt haben, sich gerade verändern und wir uns bemühen müssen, diesen Veränderungsprozess so zu gestalten, dass der Zusammenhalt dabei nicht zu kurz kommt oder einzelne Bevölkerungsgruppen davon ausgeschlossen werden.
WEITERE BETRÄGE
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